Ich liebe Götz George

Erzählungen

Amalie Wissing   1999

Inhaltsverzeichnis

Painting ©reated by Gisela Brunn

Erzählungen

Ich liebe Götz George

Drawing ©reated by Knut Kargel

Da ist mir der George doch tausendmal lieber. ereiferte Hannah sich, der ist wenigstens handfest. Wat soll ich mit Fünfminutenjüngskes aus Bodenhaltung?
Dem Muttertier in dir freien Lauf lassen! warf Gitte ein.
Hannah war eine gestandene Frau um die Vierzig, Beruf Lehrerin, und traf sich hier auf dem Marktplatz in Eddie´s Pinte zum allersamstäglichen Frühschoppen.
Mit ihr am Kneipentisch ihre beiden Freundinnen.
Gitte, knapp dreißig, Einkäuferin bei Milord und Mille, Mitte Zwanzig, Cheffriseuse und Visagistin beim ortsansässigen Starcoiffeur.
Werbemäßig spielen uns die Kerle mit ihren Achselsprays und Wässerkes doch auch schon längst an die Wand! lachte Mille.
Haben überhaupt nix eigenes mehr, warf Gitte dazwischen. Und dat bisken Aftershave alle drei Tage ist mir nun echt zu wenig!
Die Kellnerin brachte das Bier.
Neulich hab ich so ein Exemplar vor die Tür gesetzt, lachte Gitte. Prost!
Schiess los! wurde sie bedrängt.
Die neugierigen Freundinnen verschränkten die Arme auf dem Tisch.
Also, wir sind ganz Ohr, sagte Mille.
Na ja, meinte Gitte, ihr kennt mich ja. Wenn bei mir erst mal der Ofen aus ist, so von jetzt auf gleich, sie schnippte mit den Fingern, dann läuft nichts mehr.
Erzähl schon, drängte Mille. Ich muss gleich los. Der Jürgen kriegt die Krise, wenn er heute schon wieder sein Kotelett sucht und nicht findet.
Gitte schaute in die erwartungsvolle Runde. Dann fing sie an.
Jetzt an Weihnachten war´s. So gegen fünf. Ich dachte, ich dreh schon mal ne Runde mit dem Hund, weil am Abend die Bubi Scholz Story mit dem George kam.
Genau. Den hab ich mir auch gegönnt, warf Hannah ein.
Wir also in die Puschen und nix wie raus, erzählte Gitte weiter. Erste Station Litfaßsäule.
Und genau da pinkelt mein Fiffi doch glatt so einem Dreitagebart ans Bein!
Das Gelächter von Hannah und Mille unterbrach sie.
Paßt auf, sagte sie, der Typ rührt sich überhaupt nicht von der Stelle. Harrt aus wie ein angepinkeltes Pöcksken, das auf den erlösenden Kuss wartet.
Und? Hast´e ihn geküsst? feixte Mille.
Frösche überlass ich dir, gab Gitte zurück. Ich fand das alles ganz schrecklich, weil ich mich nicht getraut habe, loszulachen und biete dem Verunfallten also an, seine Hose zu waschen und die Schuhe zu reinigen.
Du? lachte Hanna. Darf nicht wahr sein!
Doch, sagte Gitte und tat beschämt. Wir also zurück in die Wohnung.
Ich dem Typen Kaffee gekocht, frischen Bademantel spendiert und die Waschmaschine angeworfen. Und das alles an Weihnachten!
Jetzt ist der Typ auf einmal ganz locker drauf. Flaniert ungeniert in meiner Wohnung herum, inspiziert alles und sieht den rot eingekreisten Film im Programmheft. Mit spitzen I-pfui-fingern hebt er es hoch und meint, so von oben herab näselnd, sagen sie bloß, sie sind auch eine von denen, die bei diesem Götz George ihren Verstand verliert!
Peng! Der Typ war für mich gestorben!
Klasse! pflichten die anderen Frauen ihr bei.
Wissen sie was, hab ich gesagt, sagte Gitte, sie sind derjenige, der hier versucht, mir dat bisken Verstand zu rauben, das ich mir über die Feiertage rette und der mir dummdreist meine kostbare Zeit stiehlt.
Ich glaub, ich hätte ihm die Schuhe um die Ohren gehauen, regte Mille sich auf.
Ich hab ihn angeschrien, entsann sich Gitte. Jedenfalls hab ich ihm die nasse Hose und seine cremefrischen Schuhe in die Hand gedrückt und ihn mit einem Fuffi für´s Taxi vor die Tür gesetzt.
Im Bademantel? wollten alle gleichzeitig wissen.
Klar. Warum nicht? antwortete Gitte. Anscheinend brauchte der Kerl in ihm so eine Herausforderung. Im Treppenhaus steht er jedenfalls nicht mehr.
Die Frauen pfiffen anerkennend und trommelten Beifall.
Find ich Klasse, sagte Mille. Müsst ich mal bei Jürgen bringen. Stellt euch vor, der wird schon ganz fickerig, wenn in seiner Nähe nur allein schon das Wort Schimanski fällt. Nichts trifft den Armen so, wie Schimanski.
Sie sind zu bedauern, die Helden von einst, heuchelte Hannah Mitgefühl. Jetzt lassen wir sie schon in Ruhe, damit sie groß und stark werden. Und was kommt dabei raus? Sparringspartner im Fliegengewicht. Ich halt das nicht mehr aus!
So isses, lacht Gitte. Sie versuchen immer die gleiche Tour: geknickter Held sucht Mitgefühl!
Kennen ich zur Genüge, betonte Mille. Immer, wenn ein Karren in den Dreck gefahren ist, lässt Jürgen sein Trümmerweib anrollen und das kümmert sich dann um die Aufräumarbeiten. Vielleicht sollte ich ihn einfach mal an einem seiner angebrannten Süppchen ersticken lassen.
Siehste, pflichtete Gitte bei, deswegen mag ich den Schimanski so gerne. Der ist der Einzige weit und breit, der zu uns hält. Der macht sich die Finger dreckig, mischt sich ein und rastet aus, wenn´s zu viel wird und anders nicht mehr geht. Genau wie wir!
Mille fiel ihr ins Wort. Du meinst, der George wird auf kleiner Flamme gehalten, weil er so ist wie wir? Und weil er als Schimmi sozusagen in unserem Namen Zoff macht, geht es ihm wie uns? Müssen die blöd sein! Den schaffen die doch nie!
Und uns auch nicht, lachte Hannah. Das ist es doch!
Hört mal her, sagte Gitte. Sie war ganz aufgeregt. Mir ist da was aufgefallen. Wenn ich irgendwo einen Artikel über den Schimmi oder den George lese, taucht fast immer das Wort macho auf. Ich habe mich gefragt, warum bringen die das im Zusammenhang mit dem George? Und dann habe ich die Texte noch mal gelesen. Mit dem Bauch, sozusagen.
Kenn ich. So lese ich nur noch, lachte Hannah.
Und dann? fragte Mille.
Das Wort macho haut richtig rein! Ich sag´s euch, hier!
Sie deutete mit der Handkante einen präzisen Schlag in die Magengrube an. Volle Breitseite aber auch. Ich sofort auf dem Superagrotrip, weil ich auf den George und den Schimmi abfahre und machos auf den Tod nicht ausstehen kann, meinte Gitte.
Aber irgendwann fängst du an zu zweifeln, wenn du ständig so einen Mist liest!, schimpfte Mille.
Ich hatte mal einen Freund, sagte Hannah, der wurde auch von Zweifeln geplagt. Aber die waren ganz anderer Art.
Auf! Erzähl! Laß hören!, spornten Mille und Gitte sie an.
Es ist schon ein Weilchen her, sagte sie.
Der Herr des Hauses, so fühlte er sich nämlich, kam von der Arbeit und fand Muttern auf der Chaiselonge, wie sie sich den Sandmann anguckt.
Sag bloß, du hast den auf Video?, warf Mille ein.
Stör ich euch?, lästert er ab, als er geblickt hat, daß George spielt. Ich wollte nur meine Ruhe haben und den Film zu Ende schauen und reagiere nicht auf seine blöden Sprüche. Das regt ihn auf und er dreht auf turbo `jetzt erfahre ich endlich, mit wem du dir die Zeit vertreibst, wenn ich nicht da bin´!
Solche Typen wie der haben echt ein Rad ab! Mille schüttelte den Kopf.
Und?, fragte Gitte.
Ich hab ihm den Stinkefinger gezeigt.
Die Frauen lachten.
Aber das Beste kommt noch, sagte Hannah. Er fing an zu toben. Ich ganz ruhig aufgestanden, Fernseher aus, ihm eine Flasche Asbach hingestellt und aus dem Zimmer.
Wohin?, wollte Mille wissen.
Koffer packen. Was sonst?, sagte Hannah.
Ja und?, fragte Gitte jetzt.
Als ich fertig war, bin ich zurück und hab ihm die Schlüssel hingelegt. Wir wollten doch heiraten, sagte er. Geht nicht mehr, tut mir leid, sag ich. Warum nicht?, fragt er noch. Siehst´e doch, sag ich, ich liebe Götz George.
Die Frauen schüttelten sich vor Lachen.
Es geht noch weiter, lachte Hannah. Während ich dann die Tür hinter mir zumache, höre ich noch, wie sie you´re so vain im Radio spielen.
Geschieht ihm recht, meinten die Frauen. So ein Typ ist ein macho. Und der George ist nix davon, sagte Mille, weder dumm noch dreist. Auch darin stimmten sie überein.
Gitte bestellte noch eine Runde.
Mille ging telefonieren. Sie sprach Jürgen eine Nachricht auf Band, dass er auch in die Kneipe kommen könnte, falls er Lust auf ein Bier mit ihnen hätte.
Erinnert ihr euch an den Unfall mit dem Boot?, fragte Mille, als sie zurück kam.
Ich war fix und fertig, erinnerte Hannah sich.
Er hat doch irgendwas gesagt, worüber manche sich fürchterlich aufgeregt haben, sagte Mille.
Klar, sagte Hannah. Denn dem Sinn nach hat der George gesagt, Reichtum darf kein Freibrief für rücksichtsloses Verhalten sein.
Recht hat er, sagte Mille. Ich glaub, ich verlieb mich gerade in ihn.
Na denn, lachten Hannah und Gitte. Willkommen im Club!

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Papermoon

Painting ©reated by Gregg Simpson

Sie sehen es ja selbst, sagte der Taxifahrer,während er bei laufendem Motor das Geld entgegennahm und sich mit der rechten Hand auf den Beifahrersitz stützte. Weiter schaffe ich es nicht.
Er drückte seine linke Hüfte gegen das Lenkrad.
Die Scheibenwischer fiepten. Rechts. Links. Rechts.
Er ist Linkshänder, dachte Greta.
Der Fahrer zog seine glattlederglänzende Geldbörse aus der Gesäßtasche, legte die Scheine ordentlich übereinander und steckte sie zu den anderen.
So wie das hier aussieht, er klappte die Geldbörse zusammen, schafft das nur noch ein Geländewagen. Erst vertrocknet alles und dann saufen wir ab.
Seine Geldbörse wechselte in die Linke. Seine Rechte bewegte er wie ein Sämann, hob Schultern und Kinn leicht an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Haltung, als sei er eine Marionette.
Ich kann von Glück reden, ächzte er, während er sich vorbeugte und auf den Knopf des Handschuhfachs drückte, wenn ich hier heil herauskomme.
Ist das der Weg? fragte Greta und zog am Hebel der Beifahrertür.
Genau, sagte er, duckte sich und schaute durch die beschlagene Scheibe. Da geht´s rauf. Viel Glück.
Als Greta die Tür zuschlug, sah sie, wie die Klappe vom Handschuhfach herunterfiel.
Scheißwetter, sagte der Taxifahrer, gab Gas und wischte mit dem Ärmel das Wasser von seiner Scheibe.
Greta war nass bis auf die Knochen.
Donner rollte über das Land. Asphaltblauer Regen fegte zischend über die Hänge und ein gewaltiger Sturm tobte durch den silbergrauen Olivenhain. Unter dem schweren Regen strömte die Erde und färbte das Meer rot.
Gretas Füße versanken im Lehm. Mit ausladenden Ruderbewegungen versuchte sie, sich im Gleichgewicht zu halten, rutschte und patschte von einer Pfütze in die andere und kämpfte sich steifbeinig den Hang hinauf.
Ich hätte andere Schuhe anziehen sollen, ging ihr durch den Kopf.
Der Himmel wurde nachtdunkel.
Dem Plan nach, der ihr am Tag zuvor von einer Kanzlei zugestellt worden war, musste der Weg vor einer Mauer enden.
Dahinter lag das Haus von Pilar.
Während ihrer langen Reise hatte Greta den Plan immer wieder auseinander gefaltet, das Papier auf dem Knie glatt gestreift und war mit dem Zeigefinger der dünnen Bleistiftlinie gefolgt, die sich durch ein engmaschiges Gewirr von Straßen schlängelte und dann vom Zentrum aus den scheinbar einzigen Weg ins offene Feld nahm, wo sie schließlich einen roten Punkt einkreiste.
Genau dort war sie angekommen.
Sie stemmte sich gegen ein schief in den Angeln hängendes Tor, über das vom Garten aus eine Bougainvillea rankte.
Es tat einen dumpfen Schlag und das Tor fiel um. Greta schrie auf. Sie hatte sich an den Stacheln der Bougainvillea verletzt und die wiederum wurde durch das fallende Tor so geschüttelt, dass die restlichen Blüten abfielen.
Aber das sah Greta nicht. Sie spürte das warme Blut auf der Wange und hielt ihr Gesicht in den kühlen Regen.
Voller Angst empfand sie plötzlich die Dunkelheit um sich und fing an zu summen.
Es war das Kinderlied von Pilar, Gretas Freundin. Von ihr stammten Text und Melodie. Immer wenn sie erblindet spielten, hatte sie es gesungen. Im Laufe der Jahre waren unzählige Strophen hinzugekommen. Pilar hatte sie aufgeschrieben und Greta fast alle auswendig gelernt.
Erst nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte, den Schalter fand und Licht ins Haus ließ, fühlte Greta sich wieder geborgen.

Aufgrund des Liedes von Pilar kannte sie sich aus. Sie konnte alle Räume nennen und ihre Größe in Schritten angeben, wobei zwei Kinderschritte ein großer Schritt waren. Sie konnte aufsagen, wie sie von welchem Ausgangspunkt des Geländes auch immer sicher an jedes gewünschte Ziel kam.
Na dann mal los, sagte sie und entledigte sich der lehmverklumpten Schuhe. Sie schloß die Augen und erinnerte den Vers fürs Bad vom Eingang aus und fing an, ihre Schritte zu zählen, bog nach rechts, dann nach links und stieß gegen eine Bodenvase. Siehst´e, bibberte sie, das Lied ist doch zu alt.
Mit offenen Augen ging sie weiter, spürte, wie die Wassertropfen ihren Hals entlang rutschten und das Kleid sich an ihrem Körper festsaugte.
Als sie sich im Spiegel angähnte, wollte sie nur noch baden. Sie stellte den Durchlauferhitzer an, ließ Wasser ein, zog sich aus und stieg in die Wanne.
Weil sie eindöste und erschrak, als sie im Wasser zusammensackte, stieg sie wieder aus, wickelte sich in ein riesiges Badetuch, schlurfte zum größten Bett des Hauses und tauchte unter dem warmen Plumeau ab in die Träume.
Pilar.
Pilar war vor drei Monaten gestorben und eingeäschert. Aus diesem Grund hatte Greta den Lageplan des Hauses erst jetzt bekommen. Den Schlüssel hatte sie schon lange.
Aber es gab eine Abmachung zwischen ihr und Pilar, daß sie das Haus erst drei Monate nach deren Tod aufsuchen sollte.
Hier, hatte sie damals zu Greta gesagt und ihr den Schlüssel über den Tisch geschoben. Vielleicht findest du in dem Haus die Antwort auf deine Frage.
Was soll das? hatte Greta sie kopfschüttelnd angeschaut und sich zurückgelehnt.
Ist mein Leben ein Film, den ich beliebig zurückspulen kann? , hatte Pilar gefragt. Ich erinnere Bilder, Gesten, Blicke. Es ist ein unermesslicher Schatz. Du weißt, ich scheue die grellen, leicht geschürzten Worte. Sie kommen daher, brüchig wie die Segel einer Barke, die man in keinem Hafen kennt. Was soll ich also sagen? Mir fehlen die Worte. Sie sind mir entwischt wie flinke, silberne Fische, und dennoch könnte ich ein Netz knüpfen, in dem wir beide, du und ich, zappeln, bis es uns die Kehle zuschnürt vor Erstaunen. Und in deinen Augen wäre ich vielleicht nicht einmal eine Lügnerin, denn du hättest eine Antwort bekommen, Trauer oder Freude empfunden und eine reiche Beute gemacht. Und ich würde dir fremd, weil du ein Spiel ernst nimmst und die ernsten Dinge leichtfertig handhabst. Ich kann mich erinnern. Für mich. Ganz alleine. Alles nachempfinden. In einem Maß, das sich immer wieder verändert. So wie ich. Und das macht es erträglich.
Es? Welches es?
Erinnere dich an deine Frage, lachte Pilar.
Und was hat das Haus damit zu tun?
Geh, und finde es selbst heraus.
Wann?
Wenn ich eingeäschert bin, überlass mich dem Wind, dann warte noch drei Monate.
Was soll denn das jetzt?
Sieh es als einen Tick an, wenn du willst.
Und die drei Monate?
Zeit, um mich freundlich auszublenden. Oder auch nicht, lachte sie wieder.

Die Frauen hatten sich in Berlin kennengelernt.
Greta kam gerne in diese Stadt, wohnte dann im Hotel Kronprinz, gleich hinter der Brücke über die Güterbahnlinie Halensee zwischen Kurfürstendamm und Rathenauplatz. Von dort aus konnte sie gemütlich ins Zentrum bummeln, Kinos, Theater und Cafés besuchen oder ihre Agenda organisieren.
An dem Tag, an dem sie Pilar zum ersten Mal traf, hatte sie auf dem Zimmer gefrühstückt, saß auf dem Sofa unter dem Fenster und blätterte im ´Stern`.
Plötzlich hielt sie inne. Nichts an ihr bewegte sich. Nicht einmal die Augen.
Sie schienen irgendwo festzuhängen.
Das ist nicht möglich, ist nicht wahr, unmöglich! schrie es in ihr auf.
In hohem Bogen flog das Magazin aufs Bett. Sie war wie versteinert. Nur ihre Augen bewegten sich. Langsam wie eine Spinne krochen sie das Bett hoch.
Du bist total verrückt! Sie schlug sich an den Kopf. Sprang auf. Wusste nicht, wohin. Rannte ins Bad. Kramte. Schraubte an Flaschen und Tuben. Nein. Nichts wie raus. Fenster auf. Fenster zu. Keinen Schritt weiter. Nein, nein. Gleich bin ich so weit. Gleich ist alles vorbei, und nichts ist geschehen, und du wirst sehen, dass du dir nur etwas eingebildet hast, und du wirst lachen und alles vergessen. Gleich, gleich ist alles vorbei...
Sie kauerte sich auf den Boden, legte den Kopf auf die Knie, hielt die Beine umschlungen und wippte hin und her...
Irgendwann ließ sie sich weinend fallen.
So lag sie, bis sie ruhiger wurde. Dann zog sie den ´Stern` ganz nah heran und betrachtete das Bild, dem sie versucht hatte zu entkommen. Behutsam glitten ihre Finger über das papierne Gesicht. Sie sah ernst aus und tief in Gedanken. Wie jemand, der nicht gestört werden darf.
Wenn es nichts mehr zu verstehen gibt, ist man nie darauf vorbereitet.
Vielleicht wurde ihr deswegen schwindlig.
Nein, nein. Kein Wort mehr. Kein Satz.
Nichts. Gar nichts.
Sie nahm Mantel und Tasche und verließ das Hotel.

Pilar war Bildhauerin und hatte an jenem Vormittag einen anstrengenden Pressetermin hinter sich gebracht.
Wären Pilar und Greta mit einem Farbtupfer markiert gewesen, hätte man ihre Wege hoch aus der Luft verfolgen können.
Im Zeitraffer wären sie kleine Billardkugeln gewesen, die wild auseinander stieben und dann, nach kurzem Aufprall an den Banden, unausweichlich aufeinander zu rollen.
Vor einem Zeitungskiosk rempelten sie zusammen.
Greta schneuzte sich gerade und Pilar hatte eine Laufmasche an ihrer rechten Wade entdeckt. So gerieten sie, die eine blind und die andere humpelnd, aneinander.
Sie schauten sich an, lachten schallend und sagten beinahe gleichzeitig, ich glaube, das ist der Beginn einer langen Freundschaft.
Und so war es.
Später saßen sie in einem Bistro.
Rauchten Zigarillos, tranken roten Burgunder,
sprachen über Pilars Skulpturen und Gretas Computerprogramme. Ihre Bewegungen liefen ineinander über. Sie waren sich nicht fremd.
Was hat dich heute nachdenklich gemacht? fragte Pilar.
Ein Foto von Götz George, antwortete Greta zögernd.
In meiner Werkstatt hängt auch eins, sagte Pilar und lächelte. Er darf mir über die Schulter gucken, wenn ich arbeite.
Kennst du ihn? fragte Greta vorsichtig.
Manchmal glaube ich, wir sind vom gleichen Stern, sagte Pilar, falls dir das als Erklärung genügt. Warum fragst du?
Heute morgen sah ich plötzlich sein Bild. Es ist, als ob ein Glas um mich zerbrochen wäre. Durchsichtig wie Luft spüre ich ihn und bewege mich in ihm wie in meinem Garten.
Pilar schaute sie liebevoll an.
Du empfindest Liebe, nicht wahr?
Wie kann ich etwas vorwegnehmen, das noch gar nicht passiert ist?! antwortete Greta hastig. Wir sind uns doch noch nie begegnet!
Wünsch es dir! warf Pilar ein.
Ich mach mich doch nicht lächerlich!, antwortete Greta aufgeregt.
Dann geh ihm aus dem Weg! war Pilars Antwort. Schick ihm ein zerdrücktes Kuscheltier, karierte Rosen, ein Phiölchen Sehnsuchtstränen..
Mach dich ruhig lustig über mich. Ich weiß, ich bin unmöglich, sagte Greta trüb.
Du bist! Also bist du nicht unmöglich, sagte Pilar. Ich mache mich nur lustig über deine Anstrengungen, dir selbst den Weg zu verstellen.
Welchen Weg?, fragte Greta.
Deinen! Du Dir Deinen!, antwortete Pilar.
Und du?, wollte Greta wissen.
Ich muss gehen, sonst erreiche ich den Flieger nach München nicht.
Jeden Frühling trafen sich die Frauen.
Da Pilar nicht wollte, dass Greta sie in ihrem Haus besuchte.
Und weil Greta überall und nirgends zu Hause war, überliess ein befreundeter Maler ihnen sein verwunschenes Haus. Zu ihrer großen Freude war er auch ein Gourmet und seine Küche bestens ausgestattet. Grund genug für die Frauen, sein Angebot anzunehmen.
Wenn sie nicht kochten, lasen sie, wenn sie nicht lasen, malten sie. Wenn sie nicht malten, dann aßen sie und wenn sie nicht aßen, dann schliefen sie.
Und wenn sie nicht mehr schlafen konnten, gingen sie spazieren.
So vergingen die Jahre.
Bis zum letzten Winter.
Pilar kam von einem Segeltörn zurück und rief Greta an.
Denk an den Schlüssel!, sagte sie am Ende des Gesprächs.
Welchen Schlüssel?, fragte Greta.
Den Schlüssel zum Haus. Findest du ihn?
Ich denke schon. Er muss hier irgendwo sein.
Dann fang an, ihn zu suchen. Und sag mir Bescheid, wenn du ihn hast.
Vielleicht wird ja noch alles gut.
So wie es ist, ist es gut.

Pilar nahm sich Zeit zum Sterben. So, wie sie sich auch Zeit zum Leben genommen hatte. Sie war unendlich traurig, aber nicht verzweifelt.
Sie kämpfte nicht gegen den Tod an.
Sie nahm ihn ernst. So, wie sie ihre Marmorblöcke ernst genommen hatte, die sie oft wochenlang sorgfältig studierte, bevor sie zum ersten Schlag ausholte.
Und genau so nahm der Tod langsam die Gestalt an, die Pilar ihm gab.

Greta wachte auf. Es war Mittag.
Sie wusste, sie würde aufstehen, sich anziehen und einen Tee kochen. Den Briefkasten sollte sie leeren und den Telefonbeantworter abhören. Dann musste die Tiefkühltruhe kontrolliert werden. Frühstücken wollte sie später.
Greta lachte. Mit Pilar hatte sie diese Situation mehr als einmal gespielt. Sie hatten es Chaos im Modalen genannt.
Greta stand auf. Ging ins Bad. Pinkelte. Wusch sich. Putzte sich die Zähne. Bürstete das Haar. Rollte Deo unter die Achseln. Verteilte Cremes auf Gesicht, Hals, Hände, Po. Dann ging sie an den großen Kleiderschrank und wählte mit geschlossenen Augen ein Kleid aus, das sich weich anfühlte.
Es war grün. Sie mochte kein Grün an diesem Morgen und entschied sich für eine schwarze Lederhose, die unheimlich gut roch. Mit dem gelben Top und ach so, ja, Socken... nein, bloß kein Tigerentenclub... sah sie aus wie eine Wespe.
Sie ging in die Küche und kochte sich einen Tee.
Es war still im Haus und draußen ein sonniger Herbsttag.
Greta öffnete die Fenster. Im Garten zwitscherten Vögel, die ihr sonst den Frühling ankündigten.
Sie ging hinaus. In der warmen Sonne las sie die Briefe an Pilar.
Im Haus stellte sie das Radio an.
Es war kalt. Sie schürte das Feuer im Kamin.
Vor dem prasselnden Feuer schlafen, träumte sie und richtete sich ein Lager aus bunten Decken und Kissen, die überall im Haus zu finden waren.
Aus dem Vorrat holte sie eine Flasche Rotwein. Gläser waren in der Vitrine. Sie zählte die Schritte zurück zum Kamin.
Stimmt, sagte sie, hockte sich auf den dicken Teppich und zündete sich ein Zigarillo an.
Wie das hier wohl weitergeht, dachte sie, und ihre Augen folgten dem Rauch des Zigarillo. Was meinst du, Pilar?, fragte sie und schenkte den Wein ein. Ich fühle mich so, als ob ich hier einbrechen würde. Aber ich danke dir für dein verdammtes Vertrauen!, und sie hob das Glas auf ihr Wohl.

Im Laufe der Nacht wurde Greta immer unruhiger. Je mehr sie nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Sie hätte gerne mir jemandem gesprochen, der ihr einen Rat hätte geben können. Ihr sagen, was jetzt richtig oder falsch wäre. Aber wen? Ihr fiel niemand ein. Sollte sie bleiben? Gehen? Oder einfach jemanden bitten zu kommen? Nein, nein. Das war nicht abgemacht. So redete sie sich selber ins Gewissen.
Alte, du ziehst hier eine Nummer ab, die total behämmert ist, zürnte sie. Bist seit Jahren auf der Piste und kommst ins Schleudern? Nee, Süße, das nehm ich dir nicht ab. Gib´s zu, du hast Muffensausen. Ganz verdammtes Muffensausen, wenn du mich fragst. Traust dich nicht ran ans Eingemachte. Könnte hochgehen wie eine Stinkbombe. Und selbst? Auch nix Neues? Kein Virgin Island weit und breit, auf dem man sich propper im Schritt gibt und zurücklehnt und seine virtual realities reinziehst? Gib´s auf, Mrs. Cool zu spielen. Mich lenkst du nicht ab. Zapp´s dir ins Programm!
Als der Morgen graute, stand Greta auf und ging spazieren.
Im Olivenhain begegnete sie einer Frau.
Filomena. Die Frau, die die Oliven einlegt.
Nirgendwo findest du bessere, hatte Pilar gesagt. Diese hier sind handverlesen und mit dem Stein aufgeschlagen. Eine nach der anderen. Hier, probier mal. Köstlich. Oder?
Greta ging auf Filomena zu.
Hallo, Filomena. Ich bin Greta.
Sie kennen mich? fragte Filomena und wischte sich die Hand an ihrem schwarzen Rock, bevor sie sie zum Gruß ausstreckte.
Pilar hat mir von Ihnen erzählt. Und von Ihren Oliven.
Die arme Pilar, sagte sie. Möge sie in Frieden ruhen. Eine schöne Frau. Und eine gute Frau. Sie mochte uns.
Ich weiß, sagte Greta.
Und Sie sind jetzt in dem Haus?, fragte Filomena.
Vorgestern bin ich angekommen.
Ja, der Sturm war schlimm. Sie werden viel zu tun haben. Hier. Die Oliven. Alles kaputt. So ein Jammer. Das, was da noch hängt, zeigte sie auf die Bäume, bringt auch nichts mehr.
Und die vom Boden kann man nicht mehr verwenden?, fragte Greta.
Nein, erwiderte Filomena. Die taugen nichts mehr. Die sind schon in die Geschichte eingegangen. So ist das Leben. Und sie lachte Greta verschmitzt an.
Und Sie, fragte Filomena, bleiben Sie lange?
Ich weiß es noch nicht. Kommen Sie doch einfach mal vorbei.
Mal sehen. Erst einmal muß ich meinen Enkel besuchen. Pipo. Er hat Geburtstag. Da drüben! Sie streckte den Zeigefinger in Richtung Süden. Da drüben lebt er. Achtzig Kilometer sind das. Die tun weh, sagte sie, beugte sich schwer und hob einen abgerissenen Olivenzweig vom Boden.
Grüße an Pipo, sagte Greta und ging weiter.
Ade, sagte Filomena. Und viel Glück.

Greta blickte in den Himmel.

Ein Schwarm kreischender Möwen kam von der Seeseite her und zog über den Olivenhain.
Die holen sich ihr Frühstück, rief Filomena ihr zu. An der Müllkippe. Wenn der Wind sich dreht, riechen Sie den Gestank bis hier...Eine Schande ist das ....
Ihre Stimmen verloren sich im Wind.

Greta ging zurück zum Haus.
Ich bin nicht hier, weil ich gegen Müllkippen demonstrieren will, dachte sie wütend.
Ich brauche auch keine kleine heile Welt. Aber es ist vorbei. Aus. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Mich auf nichts mehr einlassen. Wind weg. Farben weg. Alles weg.
Durch die stinkende Müllkippe fühlte sie sich so stark bedroht, daß allein schon das Bild der Müllkippe ausreichte, um alles in ihr zu ersticken und sie fühlte, wie sie vermoderte.
Ich spüre das Leben, dachte sie, wie es sich krümmt vor Scham. Keine Sorge. Wir entsorgen. Das Leben. Und uns.
Sie erinnerte sich an ihre Zeit vor den gelben Säcken. Vor dem Grünen Punkt. Vor dem Fernsehen.
Wenn sie sich richtig entsann, musste man sich nicht unaufhörlich für oder gegen etwas entscheiden. Die Ereignisse, die ein Ja oder Nein verlangten, waren dünn gesät, aber sie schienen von Bedeutung zu sein, denn sie gaben dem Leben immer eine ganz neue Richtung.
Das ist vielleicht mein Handicap, dachte sie.
Im Haus machte sie den Kamin an und setzte sich vor das Feuer.
Einer der Briefe an Pilar beschäftigte sie.
Sie stand auf und holte ihn.

Liebe Frau Montalbán, las sie, seit vielen Jahren vermeide ich es, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich gehe Ihnen sozusagen aus dem Weg. Ich besuche Ihre Ausstellungen nicht mehr und lese nicht eine Zeile von dem, was über Sie geschrieben wird. Jedem Gespräch, dessen Thema Sie sind, entziehe ich mich. Ich stelle mich dumm. Stumm. Taub.
All das tue ich, weil ich vor vielen Jahren in Berlin zufällig in eine Ausstellung kam und dort Ihre Skulptur ´Bewegung` sah. Ich kann Ihnen nicht erklären, dass mir Angst wurde.
Angst, Ihnen zu begegnen. Angst, weil ich Liebe empfinde.
Noch immer...

Auch am nächsten und am darauffolgenden Abend saß Greta noch immer vor dem Kamin. Um sie verstreut Aufzeichnungen, Skizzen, Bilder, Briefe. Sie hatte sich nur vom Fleck gerührt, um etwas zu suchen, nachzuschlagen und Kaffee oder Tee zu kochen.
Und sie hatte telefoniert. Immer dieselbe Nummer.
Hatte unzählige Nachrichten hinterlassen, man möge sie zurückrufen. Aber das Telefon klingelte nicht.
Sie wartete zwei weitere Tage. Dann fuhr sie ab.
Sie rief ein Taxi, nahm dann den Zug und dann einen Flug.
Ich kann Ihnen einen Flug über München anbieten, hatte die Frau am Ticketschalter gesagt. Allerdings nur noch in der ersten Klasse.
In München angekommen, versuchte Greta wiederum mehrmals vergeblich zu telefonieren.
This is our final call for allpassengers booked to Hamburg. Please proceed to gate...
Atemlos kam sie im Flugzeug an.
Die Stewardess führte sie zu ihrem Platz.
Greta zog ihren Mantel aus, sah sich neugierig um und da stand er nun, ihr papermoon und traf sie mitten ins Herz
Hallo, sagte er.
Hallo, sagte sie.
Es klang wie ein liebevolles Willkommen.
Kann ich Ihnen behilflich sein? hörte sie die Stimme der Stewardess.
Tonlos schüttelte sie den Kopf.
Der Mantel glitt zu Boden.
Dunkelrot quoll das Blut aus ihrem Herzen.
Er kam auf sie zu.
Entschuldigen Sie, wie war doch Ihr Name?, fragte er und bot ihr die Hand zum Gruß.
Schweinebacke, sagte sie und fühlte..
Wie bitte?, fragte er.
Greta, sagte sie.
Schweine..?, hielt er inne und war ganz Ohr. Greta konnte ihn riechen.
Ja, Backe, sagte sie und ach du lieber Gott, ist doch ganz einfach, und sie fühlte ihre Hand in seiner...
Bitte, setzen Sie sich doch, bot sie ihm an, als wäre es nichts als eine Frage der Höflichkeit. Nicht gehen, alles, nur nicht gehen, dachte sie, und sie war fest entschlossen, ihm nichts zu verraten, bis nicht auch er eine Chance gehabt hätte, sie zu vermissen oder zu vergessen. Dabei hätte sie ihn am liebsten geküsst.
Und wie sagten Sie, ist Ihr Name?, fragte sie während er sich setzte.
Er lachte.
Für die meisten bin ich Schimanski.

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Ein florentinischer Sekretär

Der Mann legte das Buch zur Seite und schaute überrascht die Frau an, die an seinem Tisch Platz genommen hatte.
Sie war eine Spielerin. Keine Gesellschaftsspielerin. Nein, nein, nicht das was Sie denken. Glücksspiel. Sie zockte in Parks, Reisezügen, Straßencafés.
Stellen sie sich vor, eröffnete der Mann und legte seine Karten auf den Tisch. 1527 stirbt Machiavelli und 1559, das heißt zweiunddreißig Jahre nach seinem Tod, verbrennen ihn die Jesuiten zu Ingolstadt. Wie sie das wohl gemacht haben?
Jesus wird alle Ostern angenagelt. Ein Fest. Seit zweitausend Jahren, sagte die Frau.
Damit hat er diesem gegenüber einen Vorsprung, sagte der Mann. Kaum jemand kennt ihn.
Jesus war dreiunddreißig, als er starb, sagte sie wie in Gedanken.
Fakten zählen. Nur Fakten. Vorher oder nachher spielt keine Rolle.
Aber er war zumindest anwesend bei seiner Kreuzigung, sagte die Frau.
Richtig, sagte der Mann.
Sagen wir, das macht drei Punkte? lachte sie. Bingo für den King!
Sie meinen, es ist nicht verwunderlich, dass so wenig über diesen hier geredet wird? Er deutete auf das Buch.
Mal sehen. Sein Blatt ist gar nicht so schlecht, wie ich dachte, sagte sie. Schließlich kennt man seinen Namen noch.
Gut. Bringt einen Punkt, sagte er lustlos.
Und seine Schriften, sagt sie. Die machen immerhin zwei Punkte.
Und weiter? fragte er ungeduldig.
Tja, sagte sie und zog die Verbrennungskarte. Also... in Indien, sagte sie, überschüttet man Frauen mit Benzin und steckt sie an sie.
Gibt es Daten, Zahlen, Namen? wollte er beinahe zornig wissen.
Eher unbekannt oder ungenau, gab sie an.
Eigene Veröffentlichungen vielleicht? fragte er ungeduldig.
Überlebende berichten, sagte sie, den Kopf wiegend.
Regelwidrig, sagte er schroff.
Und die Erlebnisschiene? beharrte sie.
Kennen sie vielleicht Jesus live: Wie ich ans Kreuz genagelt wurde? Unmöglich! wies er sie empört zurück.
Zeit spielt doch keine Rolle, gab sie zurück.
Aber Fakten! konterte er.
Indien zählt, lächelte sie leise. Mit Verbrennung zwei Punkte.
Zu wenig, gab er sich siegessicher. Viel zu wenig. Einen Tee zum Gedenken?
Sie meinen den five-o´clock tea?, fragte sie zerstreut und schaute auf die Uhr.
Es wäre mir eine Freude, erwiderte er großherzig.
Mit einem Kopfnicken nahm sie an.
Der Ober präparierte den Tisch. Auf dem gestärkten, schimmernd weißen Damast ordnete er Tassen, Sahnekännchen und Zuckerdose aus feinstem Eierschalenporzellan artig und adrett zueinander. Entzündete die Teelichter und schob die Kannen mit dampfendem Pekoe auf dem Stövchen noch einmal zurecht.
Zwei Minuten, dann ist er soweit, sagte er leise und entfernte sich.
Eine Zeremonie, sagte die Frau und strahlte.
Mit einem wohlwollenden Blick stimmte der Mann ihr zu.
Danke, sagte sie feierlich. Das macht drei Punkte für die Frauen in Indien.
Vornehm erhob sie sich, grüßte und ging.


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Medizin für Dr. Yang

Painting ©reated by Lidia Simeonova

Alice und Alice und Alice, seufzte Dr. Yang, warum bleibt ihr mir nicht endlich vom Leib?
Er fühlte sich ausgebrannt.
Durch dreiundachtzig Filme hatte er sich gestottert, gelächelt und immer das Richtige getan.
Wir hätten da eine Rolle für sie, die Weisheit und ewige Geduld Asiens ...
Sie wissen schon...
Und ob er wusste!
Freiheit ist Gefühl macht Angst, las er im Text und fluchte.
In seinem Kopf verhallte ein spöttischer Singsang: Die Freiheit nehm ich mir... und er wurde aus dem Nichts heraus so wütend, so wutschnaubend, so unbändig, dass er nichts mehr von dem verkörperte, was seine Rollen ihm gemeinhin abverlangten.
Es knallte, krachte, klirrte, stöhnte und ächzte, dass es eine Lust war, ihm zuzuschauen, denn nicht jeden Tag wird man Zeuge eines so gewaltigen Ausbruchs.
Seine Fans hätten ihn hochleben lassen.
Das ist wenigstens noch ein Kerl, hätten Frauen zu ihren Männern gesagt und die hätten sie angebrüllt und geprügelt, ihnen die Wäsche am Leib zerrissen und gestöhnt, sag schon, bin ich so gut wie er?
Ist es das, was du willst?
Alle Protagonisten würden verletzt vom Feld taumeln.
Es tut mir leid wegen gestern Abend...
Dr. Yang stutzte. Der Satz gehörte einer anderen Rolle.
Seltsam, dachte er, ich, der ewig Heilende, der ewig Vorausschauende, ich habe noch nie einen gravierenden Fehler gemacht. Man hat mich nie einen Fehler machen lassen! Mir dreiundachtzig Filme hindurch noch nie eine Chance gegeben, mich zu entschuldigen!
Und während er die Scherben, Holzsplitter und Fetzen auf dem Boden zusammen kehrte, dachte er darüber nach, was er Falsches oder Gemeines tun musste, um sich entschuldigen zu können
Jemanden umzubringen schloss er von vorne herein aus. Aber er könnte jemanden anlügen. Lügen ist nicht schlecht. Angelogen zu werden verletzt immer. Genau. Er würde lügen. Aber was sollte er sagen? Und wen sollte er anlügen. Einen Freund? Eine Freundin?
Er sah ihre Augen vor sich.
Nein, nein, das würde nicht gehen. Es würde ihnen das Herz brechen. Nimm einen Fremden, sagte er zu sich selbst. Du könntest etwas tun und später behaupten, du seist es nicht gewesen. Dann gehst du hin sagst, dass es eine Lüge war und entschuldigst dich.
Genau so wollte Dr. Yang lernen, sich zu entschuldigen.
Die folgenden Tage verbrachte er im Haus.
Eifrig studierte er seine neue Rolle.
Der Himmel wurde türkis und die Luft durchsichtig.
Eine mandarinfarbene Sonne begrüßte den neuen Tag.
Dr. Yang ging hinaus.
Er nahm den Weg durch die Klippen zum Meer hinunter. Dort ließ er bald Kiesel über das Wasser hüpfen und lief mit den Wellen, die leise den Strand säumten, um die Wette.
Auf dem Rückweg begegnete er der Fremden. Sie gingen eine kurze Zeit nebeneinander her. Er fragte. Sie antwortete. Ihre Herzen klopften, wenn sie sich ansahen.
Kommen sie mich besuchen, sagte er und schaute ihr in die Augen. Heute Abend.
Sie kam nicht.
Am nächsten Morgen rief sie ihn an. Er sagte ihr, dass er am Tag zuvor sehr betrunken gewesen sei.
Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich geredet habe, sagte er und sie wurde ganz leise vor Schmerz und sagte nur noch:
ich wollte sie nicht stören, Dr. Yang. Ich wollte sie nicht stören, und legte den Hörer ganz vorsichtig auf, so, als würde sie jeden Augenblick zerspringen.

















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Blukaat

Painting ©reated by Jean Dolande

Nee, sagte Pit und kramte in den Plastiktüten, die er zwischen seinen Beinen am Boden des Rollstuhls hin und her schob. Er fand was er suchte. Ich sach et dir. Dat wirt nix, Manni. Darauf kannste einen.
Er knackte die Aludose, setzte sie an seinen verschorften Mund und ließ das kalte Bier hinein laufen. Dann rülpste er, knickte die Dose und warf sie mit schlapper Hand über die Schulter. Das Blech schepperte gegen einen verwitterten Grabstein und fiel auf den harschen Schnee.
Doppelte Staatsbürgerschaft, höhnte er, zog die grellbunte Decke bis zu Brust und kurvte mit dem Rollstuhl um eine Eiche, überholte Manni und blieb vor ihm stehen. Die sint so lange hier bisse allet gekricht ham, und dann ade du mein lieb Heimatland. So isset doch.
Er rieb die steifen Finger gegen einander und pustete sich die Hände warm.
Wat hat der... wat hat der Herzoch gesacht? lallte Manni. Stantoch... inne Bilt.
Manni wankte und versuchte, zu einer großartigen Bewegung auszuholen, aber sein Arm schlug ihm wie ein Knüppel entgegen.
Ganz groß, schrie er und schloß die Augen.
Wat denn? fragte Pit gereizt.
Sowat wie die Reichen, schleppte Manni an seiner schweren Zunge, soll die Armen nich vergessn. Prost.
Der Korn gluckerte. Es schneite.
Sach blos die tun jez wat verschenkn, feixte Pit grinsend.
Scheiße. Dat is allet Scheiße wat du sachst, krakeelte Manni. Es geht um Kohle, Mann.
Er balancierte sein Gleichgewicht aus und hielt sich auf den einknickenden Beinen.
Und dann betonte er jede Silbe einzeln.
Um Pie pen. Ka pi to?
Sein Oberkörper kippte nach vorne und er fing ihn über eine seitliche Drehung ab.
Dat is jez zu hoch für mich, krächzte Pit verärgert und rollte bis zur Bank. Zündete sich mit zittriger Hand eine Selbstgedrehte an.
Weilde besoffn bis, lallte Manni, total besoffn. Deswegn krichste nix mehr in die Birne da oben, kicherte er. Aber ich willet dir erklärn, sabberte er, bevor uns der Arsch festfriert anne Friethofsbank. Hörse mir überhaupt zu?
Er torkelte, ließ sich auf die Bank plumpsen und schielte zu Pit hinüber, der starrhalsig über die Gräber stierte.
Willset jez wissen oder nich? fragte er forsch und wartete ab.
Pit schwieg.
Manni richtete den Oberkörper auf und mit erhoben schlingerndem Finger heischte er Aufmerksamkeit.
Die müssn doch alle nn Antrach stelln für eine dopp doppelte Schtatsbürgeschaft. Isoch richtich oder? Der Oberkörper sackte zusammen.
Wat frachste mich? brummte Pit. Seh ich aus wien Oberregierungsrat?
Hä hätt ja seinkönn, keuchte Manni. Issa auch scheißegal, winkte er verärgert ab. Aber dat schafft Abeitspläze.
Wat schafft dat? Abeitspläze? Jez bisse total durcheknallt, wat?
Pit schnipste den Zigarettenstummel weg und machte mit der geöffneten Hand die Bewegung eines Scheibenwischers.
Du wirset gleich versten wennich dirsach, die kriegn nichnur die doppdoppelte Schtaatsbürgerschaft. Nee nee, fuchtelte er, die kriegen nnochn Ausweis.
N Ausweis fürn Ausweis? betonte Pit.
Genau, du sagst es, lobte Manni ihn. N Ausweis fürn Ausweis, kicherte er besoffen. Er rutschte auf der Bank zu Pit rüber, legte den Arm um seinen Hals und zog ihn ins Ver-trauen. Ich dachteda anein blaun. Wie finsse dat?
Wieso blau? fragte Pit.
Issoch kla, keuchte er, dann kicherte er los. Die Amis, hier unterbrach er und machte eine bedeutende Pause, hörzu Pit, hörjez gutzu wattich sach, pasauf die Amis, du wirset nich glauben, aberich sachet dirjez, die Ammis ham nur grienkaats unt beiuns, prustete er drauf los, beiuns gipsann die blukaats.
Issat nichgut? Issat nich irre gut, Pit? Er gröhlte und drosch auf seine Schenkel ein.
Blukaat. Manni, gröhlte Pit jetzt. Dat gippet nich. Manni. Du bis genial. Mensch Manni, der Erfinder der blukaat. Lasset patentiern Manni, schrie er und sie kreischten und keuchten, daß ihnen die Tränen kamen und trommelten sich auf die Schenkel und schütteten sich voll, bis der Schnaps ihnen aus den blaugefrorenen Lippen rann.
Sach doch, issat nich gut? Issat nich irre gut?


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Violeta

Painting ©reated by Humberto de Jesús Viñas García

Wenn man Violeta heißt, kann man eigentlich nur Sängerin werden, oder? Sehen sie, das habe ich auch gedacht, bis ich eine Violeta kennenlernte.
Sie war nicht dunkelhaarig, ich erwähne es deswegen, weil eine echte Violeta, ich meine natürlich so eine, wie ich sie mir vorgestellt hatte, zumindest dunkle Haare haben würde. Aber nun. Die Violeta, die ich kennenlernte, war rotblond.
Ungescheitelt drehte sich ihr Kürbisblondhaar in flusigen Wirbeln von der Stirne bis in den Nacken. Ja, und an Violetas Augen erinnere ich mich, weil ich meinen ersten Füllfederhalter, ein Pelikan, vor jedem neuen Auftanken unter fließendem Wasser gereinigt habe. Und die allerletzte Spülung, also die, bevor dann das Wasser ganz klar wurde, hatte die Farbe von Violetas Augen. Ein wasserwasserhelles Königsblau. Das war die Tinte, die ich immer verwendet habe. Nein, immer stimmt nicht.
Später habe ich mit grüner Tinte geschrieben, dann mit schwarzer und dann wollte ich nur noch türkisfarbene. Genau. So war das. Jetzt, wo ich darüber rede, fällt mir alles wieder ein. Richtig, ich wollte ihnen ja von Violeta erzählen.
Also ich kaufe in einem Großmarkt ein. Jeden Donnerstag. Und ich nehme mir Zeit, denn ich schaue mir gerne Verpackungen an, Flaschenformen und so weiter. Ich nehme auch vieles in die Hand, lese, schüttle was sich schütteln lässt und stelle es wieder ins Regal. Ich komme, letzte Woche war es, auf meiner Expedition durch den Großmarkt in die Spirituosenabteilung. Tolle Sachen gibt es ja inzwischen. Aber was ich sagen wollte, ich stehe da und sehe plötzlich eine Flasche Original Danziger Goldwasser. Sie kennen es? Schmeckt nicht atemberaubend, aber die hauchdünne Goldspäne darin sinkt so theatralisch zu Boden, natürlich nur, wenn man ordentlich daran geschüttelt hat, dass ich es unbedingt tun musste. Und sie werden es glauben oder nicht. Aber als ich in dieses flimmernde Gold schaute, habe ich Violetas Haut gesehen.
Stellen sie sich vor. Ein hohes, altes Fenster.
Beide Flügel sind geöffnet. Dahinter die Kronen sommerblättriger Bäume. Helle Nachmittagssonne scheint auf die Fensterbank.
Violeta sitzt vor dem Fenster. Ihr Arm ruht in der Sonne. Ich stehe hinter ihr und kämme ihre feuchten Haare. Sie ist gerade aus dem Bad gekommen. Plötzlich bricht sich das Licht der Sonne in den kleinen Wassertropfen auf ihrer Haut und goldene Glitzer übersäen ihren Arm. Ein wunderschönes Bild. Daran habe ich mich erinnert. Letzten Donnerstag. Klingt albern, was?
Sie möchten wissen, wo ich damals war? Ich meine, wo Violeta und ich waren? Ich will es ihnen erzählen.
Eigentlich habe ich Violeta nur kennengelernt, weil ein Flugzeug abgestürzt ist und ich nicht auf der Maschine war. Und ich war nicht auf der Maschine, weil ich als Zeugin in einem Prozess aussagen musste. Ja, und dann kannte ich noch Michael. Eine Liebe aus der Studienzeit. Und der gab mir den Tip mit der Klinik.
Da habe ich Violeta kennengelernt.
Als ich sie das erste Mal sah, nein, zuerst sah sie nicht, stimmt nicht. Ich merkte, wie jemand ganz energisch an meinem Kittel zog.
Ich drehte mich um und da stand Violeta. Nein, sie stand nicht aufrecht. Das konnte sie nicht. Sie war vierzehn, damals. Mit krummem Rücken schlurfte sie auf dünnen Beinen vom Bett zum Stuhl, vom Stuhl zum Bett. Wie viele Jahre ihrer Kindheit sie in einem dunklen Zimmer im Bett angeschnallt verbracht hatte, weiß ich nicht mehr. Wir haben nie darüber gesprochen. Sie konnte nur Luft ausstoßen. Eine kurze Sequenz, ungefähr so, he-he-he, hieß, ich will etwas trinken. War ihr das Getränk nicht recht, Milch, Saft, Tee oder Wasser, folgte so lange ein hee-hee, bis sie bekam, was sie wollte. Manchmal weinte sie. Rauh und trocken.
Auf der Station war sie die Jüngste. Die alten Frauen nahmen kaum Notiz von ihr. Jede von ihnen lebte in einer anderen Welt.
Aber ich weiß noch etwas von Violeta zu erzählen. Und das hat mit Musik zu tun. Auch wenn sie keine Sängerin war und nicht dunkelhaarig und sich nicht in einem biegsamen Körper bewegte, so glaube ich doch, dass sie ein besonderes Empfinden für Musik hatte.
An sonnigen Tagen durften die Frauen sich für einige Stunden im Park aufhalten.
Besser gesagt in einem kleineren Garten, der ringsum mannshoch mit Maschendraht eingezäunt war. Hier und da stand eine Bank in dem hügeligen Gelände. Aber nur von einer Bank aus hatte man Einblick in einen tiefer gelegenen Garten, in dem sich die Männer rauchend und Karten spielend die Zeit vertrieben. Außerdem gab es dort ein höher gelegenes Rondell mit einer Steinbank, das man über einen Weg und einige Stufen erreichte.
Und diesen Weg ging ein Mann. Aber ging nicht einfach so. Er schritt daher, als ob er gleich eine Bühne betreten würde. Ich hatte mich gerade zu Violeta gesetzt.
Und jetzt schauten wir beide dem alten Mann zu.
Er kam auf dem Rondell an, stellte sich rechts neben die Steinbank, verbeugte sich gemessen, machte eine Vierteldrehung nach links, nahm Platz und hielt dabei mit seinem rechten Arm die Schöße seines Fracks hoch, schob dann seine Manschetten, erst links dann rechts, ein bisschen höher, streckte sich im Rücken, winkelte die Arme und atmete tief ein. Seine Hände lagen jetzt auf den Tasten und schlugen die ersten Akkorde an. Wütend rasten sie auseinander, gegen einander, übereinander.
Der Pianist hatte die Augen längst geschlossen. Er spielte wie ein Besessener. Er schmeichelte, lockte, forderte, versprach, verweigerte, griff an und gab sich hin. Die Kadenzen sprudelten und hüpften und Violeta bewegte ihren verkrümmten Rücken im Rhythmus der Musik.
Als die Schlussakkorde verklungen waren, stand der Pianist auf, wischte sich die Stirne mit einem großen, weißen Tuch, verbeugte sich zur Mitte, einmal nach rechts und einmal nach links, wischte sich erneut die Stirn und schritt die Stufen hinab.
Violeta war längst aufgesprungen und wollte ihm entgegen laufen.
Eilig schlurfte sie über den Kies. Aber sie kam nicht weiter als bis zum Zaun.

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Der V-Mann

Painting ©reated by Filip Van Roy

Leo ist Berichterstatter und lebte seit Jahren in den unterschiedlichsten Hotels und Herbergen der Welt.
Die Wahl seiner Unterkunft hing natürlich von den Gegebenheiten vor Ort ab, aber er erlebte sie immer im Zusammenhang mit dem Thema, an dem er gerade arbeitete. Viele Jahre pendelte er nun schon zwischen ausufernden Krisengebieten der Welt und den Enklaven des Überflusses.
Leo wird fünfzig. Bald ist es soweit. Aber seit Wochen fühlt er eine seltsame innere Unruhe. Irgend etwas ist los. Ist anders als sonst. Leo führt es auf seine allgemeine Müdigkeit zurück.
Nenn es, wie du willst, sagt er zu Carlos, seinem Freund, einem Fotoreporter, der ihn oft begleitet hatte, wenn es anderen zu brenzlig wurde. Meine Kondition ist jedenfalls nicht mehr die beste.
Hast du deswegen den Job geschmissen?, fragt Carlos.
Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber als ich mir gestern in meinem Hotelzimmer den ersten Wodka-Lemon gemixt habe und das leise Knistern und Knacken der bizarr zerspringenden Eiswürfel an mein Ohr drang und dieser bittere Gestank der Armut da draußen mir noch in der Nase biss, war ich fertig. Und als ich dann meinen Bericht in die Maschine tippte, dachte ich, Worte, nichts als Worte, reihen sich ein und schmiegen sich wortlos aneinander wie alte Bekannte, aber die Menschen, von denen ich berichte, werden sich immer fremder und feindseliger.
Was ist los mit Ihnen?, hatte sein Chefredakteur ihn angerufen. Wo bleibt ihr Biss, Krüger? Ihre Berichte stimmen nachdenklich. Zu nachdenklich, höhnte er. Sie vergraulen uns die Leser und die Anzeigenkunden! Kitzeln Sie ihren verdammten Jagdinstinkt wach!, brüllte er in den Hörer, bringen Sie uns Trophäen! Aber halten Sie um Himmels Willen das Elend der Welt in Schach! Sie haben eine letzte Chance!, droht er ihm und hatte den Hörer aufgeknallt.
Leo kannte die Spielregeln. Je betroffener und entsetzter er war, desto vorsichtiger musste er die Worte wählen.
Wie Totempfähle rammte er sie in den Boden. Um Kindergefängnisse, Slums und Bordelle unserer Dritten Welt.
Er sprach nie von der Dritten Welt.
In einem Artikel hatte er auch auf die sprachliche Verunglimpfung der Menschen in der Dritten Welt hingewiesen und gefordert, diesen Begriff aus den Medien fern zu halten.
Man unterstellte ihm, er wolle der Wirtschaft schaden und Subventionen und Entwicklungshilfen verhindern und riet ihm, sich nicht wichtig zu machen, denn schließlich sei er nicht einmal ein Betroffener. Allerdings müsse man ihm als Berichterstatter eine gewisse Blauäugigkeit nachsehen, denn er könne schließlich nicht überschauen, dass eine weltweite Gleichberechtigung aller Staaten unweigerlich den Zusammenbruch unseres Weltwirtschaftssystems nach sich ziehen würde. Eine Katastrophe. Nicht auszudenken, usw. usw.
Du siehst, mir steht nicht mehr zu als einem Gerichtsschreiber, bemerkt Leo bissig.
Schau mich an!, meint sein Freund Carlos. Verdiene ich mein Brot auf ehrliche Weise? Arbeite ich nicht mit dir zusammen, weil wir uns beide am Trog des Elends den Magen verdorben haben?
Mach deinen Job und reg dich nicht auf!, riet ihm ein Kollege, der Leo vor einigen Tagen in Asmara besucht hatte. Schließlich bist du nicht mehr der Jüngste! Außerdem hast du´s bald geschafft und dann ist das Jungvolk für die Auflagen verantwortlich. Und du kassierst nur noch die Preise. Ist doch eine feine Sache, oder?
Ich pfeife auf die Auszeichnungen, winkte er ab. Mir wird kotzübel, wenn ich wie ein pikantes Häppchen herumgereicht werde: Haben Sie gelesen? Sein letzter Kriegsbericht!? Ergreifend! Finden Sie nicht?
Du brauchst wohl keine Anerkennung, was? Der Kollege war gereizt.
Die bekomme ich, wenn eine Auflage plötzlich zurück geht, antwortete Leo abwesend, denn dann weiß ich, dass ich Dinge ins Rollen bringen kann.
Dinge ins Rollen bringen! Das ich nicht lache!. erboste sich der Kollege. Der Rubel muss rollen! Sonst nichts!
Der Euro ist dran, verbesserte Leo den Kollegen. Ich denke, es dauert nicht mehr lange, bis Tochter Europa ihre Trickkiste öffnet und eine legale Rückführung illegalen Kapitals anbietet. Man darf es sich mit niemandem verderben, oder?, fragte er spöttisch.
Was ich keineswegs als unmoralisch ansehe, warf der Kollege verärgert ein.
Klingt wie ein zur Buße drei Vaterunser auf modern halt, meinte Leo trocken und war froh, dass der Kollege nicht länger bleiben wollte.
Im offenen Jeep fuhren sie zum Flughafen.
Ich verstehe diese Leute nicht, sagte der Kollege während der Fahrt. Was klopfen diese schwarzen Jungs da ständig auf die Haube? Laufen rum wie Penner, lachen und machen das V da, das Victoryzeichen. Was wollen die eigentlich gewinnen?
Das V ist schon lange kein Siegeszeichen mehr, antwortete Leo knapp. Es ist die aufgeklappte Schere.
Meinst du, die Schwarzen wollen sagen, wir gehen getrennte Wege?, fragte der Kollege beunruhigt.
Frag sie doch einfach, wenn du das nächste Mal kommst!, schlug Leo vor und parkte den Jeep scharf.

Wenige Tage später schrieb Leo seinen letzten Bericht.
Er schrieb von Verwundeten, die sich in einem verwüsteten Vorort von Asmara versteckt hielten. Vermutlich hatten sie vergeblich versucht, bis zu einem Vorposten der verbotenen Volksfront vorzustoßen. Viele waren tot und die Verletzten vollkommen verängstigt, verwirrt, konnten sich nicht verständlich machen.
Die Bilder verschwinden nicht. Auch nicht der Geruch. Das Elend.
Vor seinen Augen eine verlassenen Hütte, ein verrostetes Gestell. Eine verkohlte Leiche.
Als er sich ihr nähert, fliegt ein Schwarm schwarzer Fliegen auf und Leo blickt in ihren gespaltenen Schädel.

































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